WM: Interessanter NZZ-Beitrag über unseren Nachbar Deutschland

kadetten1. Mannschaft

It’s showtime! Deutschland feiert den WM-Halbfinal-Einzug der Handballer – alle Jahre wieder treten sie ins Rampenlicht

In diesen Tagen denken Deutschlands Handballer ganz gross. «Geschichte schreiben», das wollten sie, und wenn man dem Einzug in einen Halbfinal an einer Weltmeisterschaft eine historische Dimension beimessen will, dann haben sie ihr Vorhaben schon zu einem guten Teil umgesetzt. Mit einem 22:21 gegen den alten Rivalen Kroatien zogen sie vorzeitig in die Runde der letzten vier Teams ein – und wahren die Chance auf den WM-Titel. Unterstützt wurden sie von mehr als 18 000 Anhängern in Köln, die den Match zu einem Volksfest werden liessen, dessen Ausgelassenheit locker mit den Auftritten des Fussballnationalteams in besseren Tagen konkurrieren konnte.

In aller Gründlichkeit

Handball in Deutschland: Das ist eine Show. Diesen Eindruck kann, ja muss gewinnen, wer nur einmal den Fernseher einschaltet und einen der öffentlichrechtlichen Kanäle wählt. Diesen Eindruck muss auch gewinnen, wer die Tagespresse aufschlägt und eine Berichterstattung serviert bekommt, deren Tiefgründigkeit mit jener im Fussball konkurrieren kann. In aller Gründlichkeit hat sich die Öffentlichkeit diese Endrunde angeeignet, die der Handball-Bund gemeinsam mit den dänischen Kollegen austrägt – und damit einmal mehr den Beweis erbracht hat, dass Events in Deutschland blendend funktionieren. Die Anteilnahme ist nicht bloss in den Hallen gewaltig: Durchschnittlich 7,2 Millionen TV-Zuschauer in der Vorrunde übertrafen den Rückrunden-Auftakt der Fussballbundesliga mit dem Spiel Hoffenheim gegen Bayern um eine halbe Million.

Liegt es am Spektakel, das ein Handballspiel per se verspricht? Oder ist es die vielbeschworene Bodenständigkeit, die der Sport noch immer für sich beansprucht – und die dem Fussball nach landläufiger Meinung längst abhanden gekommen ist? Sicher ist vor allem eines: Das Verhältnis der Deutschen zum Handball ist ein spezielles. Von Deutschland aus trat der Handball seinen Weg um die Welt an, der im Kern immer eine europäische Sportart geblieben ist. In Deutschland ist er nicht bloss in den Städten, sondern auch und vor allem in der Provinz zu Hause. Nicht nur in Kiel und in Mannheim oder in Berlin, sondern in Orten wie Gummersbach im Bergischen Land oder Göppingen. Ein Klassespieler wie Tobias Reichmann wirft in Melsungen seine Tore – in einer Kleinstadt im Norden Hessens mit nicht einmal 14 000 Einwohnern. Und was heute unter Rhein-Neckar-Löwen, unter «Klub der Metropolregion» firmiert, ist im Kern nichts anderes als die Spielgemeinschaft mit dem wenig glamourösen Namen SG Kronau / Östringen, die sich 2002 umbenannte und mittlerweile ihre Heimspiele in einer Mannheimer Mehrzweckarena austrägt.

In der Provinz hat der Handball einen grossen Teil seiner Basis, jenes treuen Publikums, das unabhängig von Moden und Turnieren zweiwöchentlich in die Hallen strömt. Und wenn Bob Hanning, der Vizepräsident des Handball-Bundes und zugleich der Macher der Füchse Berlin, die Erdverbundenheit des Handballs anmahnt, dann tönt es sogar ein wenig danach, als solle in einer Zeit, in der Stadt und Land vor allem als Gegensätze begriffen werden, nun auf grosser Bühne urbaner Raum und Provinz miteinander versöhnt werden.

Kartoffeldeutsch?

Dabei war es eben jene Verbundenheit mit den ländlichen Traditionen des Sports, die vermeintlich progressiven Geistern in den vergangenen Jahren immer wieder aufstiess. Vor drei Jahren, als die Deutschen völlig überraschend Europameister wurden und den Favoriten aus Spanien dabei um sieben Tore deklassierten, schrieb der Philosophie-Journalist Wolfram Eilenberger eine Kolumne bei «Zeit Online», in der er sich polemisch gegen den Handball wandte und diesem Deutschtümelei unterstellte: «Es handelt sich, mehr noch, um eine Mannschaft ohne jeglichen Migrationshintergrund. 100 Prozent kartoffeldeutsche Leistungsbereitschaft.»

In der geringen Beteiligung von Zuwanderern, so die Aussage, würde sich die Rückständigkeit eines Milieus ausdrücken. In einer heftigen Diskussion, die daraufhin folgte, hatten die Handballer die besseren Argumente; die Klage ob mangelnder Durchmischung indes wurde kürzlich in der linken Berliner «taz» aufgewärmt. Dabei hatte doch gerade jene Zeitung nach dem Gewinn der Europameisterschaft recherchiert, dass der Handball in Deutschland keineswegs eine deutsche Monokultur ist – nur sind es vor allem Zuwanderer aus Skandinavien und vom Balkan, aus Ländern mit grosser Handball-Tradition, die sich für das Spiel begeistern.

Dem Spiel konnten solche Debatten, befeuert von der originellen Vorstellung, jede Institution müsse auf Biegen oder Brechen einen Querschnitt der Einwohnerschaft repräsentieren, nur wenig anhaben. Zu sehr ruht der deutsche Handball dafür in sich, der gegenwärtige Trubel ist eher eine Dreingabe. Wer die zum Teil ungläubigen Reaktionen von Spielern und Offiziellen auf das Theater wahrnimmt, die Polonaisen auf den Rängen und vor den Hallen, der ahnt: Es ist auch eine leidenschaftliche Stand-by-Beziehung, an der man sich erfreut, wenn sich Erfolge einstellen – oder wenn solche zu erwarten sind. Denn obschon Deutschland seit langem die führende Liga stellt, obwohl kaum ein Weltklassespieler nicht mindestens einmal für einen Bundesligaklub aufgelaufen ist, hat sich der Handball keinen festen Platz in der Öffentlichkeit erspielen können. Erst auf den letzten Drücker erwarben ARD und ZDF die Übertragungsrechte.

Die Ikone Heiner Brand

Liegt es daran, dass die Geschichte so wechselhaft war und dass es lange dauerte, bis sich überhaupt erste Erfolge einstellten? 1978 gewann die Bundesrepublik den ersten WM-Titel, der Trainer Vlado Stenzel, ein Kroate, zehrte noch von seinem Ruf als «Magier», nachdem er sich auf anderen Stationen längst entzaubert hatte. Vor allem die achtziger Jahre waren eine entbehrungsreiche Zeit, ja die Mannschaft musste sogar den Abstieg in die C-Gruppe hinnehmen.

Erst mit dem populären Bundestrainer Heiner Brand etablierte sich das DHB-Team während Jahren als feste Grösse, gewann 2004 Olympiasilber, wurde Europa- und Weltmeister. Auch damals führte der Weg zum WM-Titel durch die eigenen Arenen. Nur ein halbes Jahr nach dem «Sommermärchen» der Fussball-Weltmeisterschaft 2006 feierten die Fans den Titel als «Wintermärchen», wenngleich die wohltemperierte Aufmerksamkeit von damals nicht mit jener medialen Hysterie zu vergleichen ist, die nun entfacht wird. Von Dauer, das zeigt die Erfahrung, wird das Interesse, das dem Handball wieder einmal widerfährt, kaum sein. Aber vielleicht trägt es die Männer von Bundestrainer Prokop zu jenem Titel, der dann doch einen Hauch von Geschichte reflektieren würde.

Quelle: NZZ, Stefan Osterhaus, Berlin

Bild: Wolfgang Rattay, Reuters

Zur News-Übersicht