Lucas Meister ist die Ausnahme, die bei der 21:34-Bruchlandung im EM-Startspiel gegen Schweden Normalform erreichte. Was Experten nicht überrascht. Sie attestieren ihm die markanteste Entwicklung im Team der Schweizer Handballer.
Freitag, 23 Uhr in Göteborg. Eineinhalb Stunden zuvor wurden die Schweizer Handballer brutal mit der Realität konfrontiert. Nein, es reicht noch nicht, um in einem ernstzunehmenden Spiel vor über 11 000 gegnerischen Fans einer Weltklasse-Mannschaft wie den Schweden Paroli zu bieten. Aber was soll man auch erwarten? Etwa, dass die Schweizer nach 14 Jahren EM-Abstinenz locker flockig die Platte betreten und den EM-Zweiten von 2018 aus der eigenen Halle fegen? Nein! Aber 13 Tore Differenz sind dann halt schon ziemlich ernüchternd.
Lenny Rubin zieht sich die Kapuze tief ins Gesicht, schlurft im Teamhotel mit apathischem Blick Richtung Buffet, um sich zu verpflegen. Erstaunlich, ja fast unwirklich, wie unscheinbar ein 2,05 Meter grosser Mann werden kann. Die meisten meiden jeglichen Blickkontakt mit der Aussenwelt. Hadern. Einzig Nik Tominec, diese Innerschweizer Frohnatur, bleibt am Tisch der Journalisten kurz stehen und sagt: «Sorry, für die Leistung. Das war nichts.»
Lucas Meister ist auch am Tag nach der Zäsur noch ziemlich aufgewühlt. Dabei könnte er sich sagen: Hey, ich hatte drei Abschlüsse, hab jeden rein gemacht und hinten ordentlich verteidigt; ich für meinen Teil habe den Job erledigt. Aber so tickt der 23-jährige Kreisläufer aus Muttenz nicht. Meister will immer höher, weiter, stärker, besser. Sein Selbstverständnis ist aussergewöhnlich für einen Schweizer.
Meister ist 16, als er im Raum Basel keine Perspektiven mehr sieht, um sich im Handball weiterzuentwickeln. Er verlässt das Elternhaus, disloziert nach Schaffhausen, wo er in der Handball-Akademie trainiert und in einem regulären Schulumfeld die Matura macht. Rückblickend sagt er: «Ich weiss gar nicht, wie ich das alles geschafft habe.» Aber geschadet hat die Plackerei auf jeden Fall nicht. Eher wurde durch die Doppelbelastung seine eh schon grosse Leistungsbereitschaft noch ausgeprägter.
Ich weiss nicht, ob ich in den letzten sechs Jahren, also seit ich professionell Handball spiele, jemals so hoch verloren habe.
Nein, er schlief nicht gut nach dieser Klatsche gegen die Schweden. Was nagt, ist die Höhe der Niederlage. «Ich weiss nicht, ob ich in den letzten sechs Jahren, also seit ich professionell Handball spiele, jemals so hoch verloren habe», sagt er. Natürlich, Schweden sei gut. Aber nicht 13 Tore besser als die Schweiz. «Aber wenn wir uns nicht an das Konzept halten und wenn in der Defensive statt antizipiert nur noch reagieren, dann kann es so rauskommen.» Auch deshalb hatte er nach Spielschluss noch auf dem Spielfeld ausführlichen Diskussionsbedarf mit dem Schweizer Abwehrchef Samuel Röthlisberger.
Aber nicht nur defensiv räumt Meister eklatante Mängel im Schweizer Spiel ein. «Wir haben viele hochkarätige Chancen ausgelassen. Und wir haben die 7:6-Situation – anders in der Qualifikation – ganz schlecht gespielt. Da muss man cleverer und abgeklärter agierten, länger den Ball halten, klare Chancen herausspielen, ehe man abschliesst. Aber wenn ich sehe, wie wir uns angestellt haben, tut es weh, ist es frustrierend. Erst recht, weil wir viel mehr drauf haben, als das, was wir gezeigt haben.»
Eine klare, unverblümte Ansage. Kompromisslos. Oder typisch für Meister. So hat er trotz laufendem Vertrag im Sommer darauf gedrängt, den Schweizer Serienmeister Kadetten Schaffhausen zu verlassen. «Weil es mit dem Trainer nicht funktionierte», erklärt Meister. Doch wer Ambitionen hat und in Schaffhausen war, für den kommt nur ein Wechsel ins Ausland infrage.
Minden, ein Bundesliga-Mittelfeldklub aus Nordrhein-Westfalen, war bereit, für Meister eine Ablösesumme zu bezahlen. Auch wenn der Klub aus der 81 000-Einwohner-Stadt aktuell nur knapp ausserhalb der Abstiegszone platziert ist: Wie schnell sich Meister im neuen Umfeld zurechtfand, wie viel Verantwortung und Spielzeit er in der besten Liga der Welt erhält, überrascht viele. Schliesslich hat sein teaminterner Konkurrent Magnus Gullerud mit Norwegen an der letzten WM die Silbermedaille gewonnen. Meister sagt: «Bundesliga hin oder her: Aber ich bin nicht zufrieden, wenn ich nur 20 Minuten Spielzeit kriege. Ich habe mich nicht 700 Kilometer entfernt von zu Hause und meiner Freundin niedergelassen, um die Rolle des Ergänzungsspielers zu übernehmen.» Übrigens: Meisters Freundin Korina, die Tochter des früheren Weltklasse-Handballers Goran Perkovac, betreibt als Volleyballerin im NLA-Team von Kanti Schaffhausen selbst Spitzensport und studiert in Basel.
Auf seine Entwicklung angesprochen sagt Meister: «Doch, es läuft mir gut in der Bundesliga. Ich zeige, was ich kann. Und ich gehe selbstbewusst zur Sache.» Und dabei weit über die Schmerzgrenze hinaus. Kürzlich, gegen Mitte Dezember, plagten ihn heftige Rückenschmerzen. Obwohl der bisherige Karrierehöhepunkt kurz bevorstand, kam es für Meister nicht infrage, die drei Bundesliga-Spiele um die Festtage zur Schonung auszusetzen. Er liess sich fit spritzen und enerviert sich jetzt noch, dass ihn sein Trainer in einem dieser Spiele nur partiell einsetzte. Immerhin kann er an der EM ohne Spritzen auf die Platte.
Quelle: Aargauer Zeitung, Francois Schmid-Bechtel
Bile: Aargauer Zeitung