Sie hatten eine lange, stille und vielleicht sogar enttäuschte Fahrt durch die Nacht erwartet. Doch als die Kadetten Schaffhausen am Dienstagabend in Montpellier mit ihrem Nachtbus nach Hause fuhren, spürten sie ganz andere Gefühle:
„Es war eine Mischung aus Party-Atmosphäre und Gedanken wie: ‚Ist es wahr? Was ist gerade passiert?‘ Wir waren wie in einem Traum, der in Erfüllung ging. Der Abend in Südfrankreich war purer Wahnsinn“, sagt Kadetten-Center Jonas Schelker.
Neun Stunden lang hatte sein Team im Bus nur ein Thema auf der Agenda (neben dem Schlafen): das wundersame 27:27 Unentschieden beim zweimaligen EHF-Champions-League-Sieger in der ersten Runde der Letzten 16 in der EHF-Europa-League.
„Unsere Erwartungen waren vor diesem Duell nicht so hoch. Wir haben den Montpellier-Spielern während der Champions-League-Hymne in die Gesichter geschaut – und was wir gesehen haben waren Weltmeister, Europameister, Champions-League-Sieger. Aber wir haben von Anfang an gezeigt, dass wir auf Augenhöhe spielen können“, sagt Schelker, der an diesem Abend mit sieben Toren Torschützenkönig des Schweizer Meisters wurde. Und Schaffhausen hatte sogar die Chance, das Duell zu gewinnen, als Hugo Descat aus einem Elfmeter den Ausgleichstreffer für Montpellier in letzter Sekunde erzielte.
Am Dienstag findet das Rückspiel in Schaffhausen statt und der Ausgangspunkt für die Kadetten wird ganz anders sein als beim letzten Aufeinandertreffen – oder nicht? „Nein, wir fangen immer noch mit 0:0 an. Und wir brauchen genau die gleiche Leichtigkeit, die wir in Montpellier hatten. Wir sollten nicht so viel nachdenken, sondern einfach spielen“, lautet Schelkers Rezept für den Einzug ins Viertelfinale.
Vor genau zehn Jahren duellierten sich die Kadetten und Montpellier in den letzten 16 der EHF Champions League – und die französische Mannschaft hatte im ersten Durchgang Probleme und verlor 26:31 in Schaffhausen. Und wer hat das Spiel als Fan auf der Tribüne verfolgt? Jonas Schelker, 11 Jahre alt. Am Ende zog Montpellier dank eines 35:27-Heimsieges ins Viertelfinale ein.
Am Dienstag ist das Heimrecht auf der Seite der Kadetten.
„Wir hatten so viele positive Reaktionen aus der ganzen Schweiz; so viele Glückwünsche für unser Spiel. Das war unglaublich“, sagt der 21-jährige Schelker. Um die Handballfans glücklich zu machen, nutzten die Kadetten die Gelegenheit, ein Live-Spiel im Schweizer Fernsehen zu haben, was eher selten ist. „Wir profitieren immer noch von der Handball-Euphorie, die unsere sensationelle und unerwartete Reise zur Weltmeisterschaft in Ägypten im Januar ausgelöst hat, als wir die USA ersetzten und ein herausragendes Turnier spielten. Diese Leistungen unserer Nationalmannschaft sind immer noch in den Köpfen aller Sportfans.“
Der junge Schelker war Als Backup für Teamkapitän und Legende Andy Schmid Teil des Teams.
„Ich könnte Andys Nachfolger in der Nationalmannschaft sein, aber ich werde nie wie Andy sein – er ist eine Legende, ein Spieler, den wir noch nie hatten. Er hat seinen eigenen Stil, ganz anders als meiner. Ich würde mich nie mit ihm vergleichen. Aber natürlich verbessert das Spiel in der Nationalmannschaft mit ihm oder in der Vereinsmannschaft mit Gabor Csaszar wirklich mein Niveau. Sie teilen so viel Erfahrung mit mir. Ich kann so viel lernen“, sagt Schelker.
Schelker sieht vor allem noch Verbesserungspotenziale in seinen eigenen Schusskünsten: „Obwohl ich Torschützenkönig in Montpellier war, muss ich eine größere Gefahr für den Torwart werden“.
Auf der anderen Seite lobt er ihren Torhüter, den österreichischen Nationalspieler Kristian Pilipovic, der 15 Schüsse in Montpellier hielt: „Das Niveau der Torhüter war ein Schlüssel für das Unentschieden, da Montpelliers Keeper nicht auf Kristians Niveau waren.“
Ein weiterer Schlüssel zum Erfolg der Kadetten ist die Stimmung unter den Spielern: „Wir sind ein wirklich cooles Team mit vielen jungen und einigen erfahrenen Spielern, die uns auf unserem Weg begleiten.“
Die Kadetten sind bekannt dafür, bis zum Schluss in allen Wettbewerben für Nervenkitzel zu sorgen: In der Schweizer Liga zog Schaffhausen bereits viermal, in der Europa League erhöhten sie nun auf drei. Und im Gruppenauftakt sorgte ein Elfmetertor von Csaszar mit dem Schlusspfiff für den 29:28 Sieg gegen GOG. „Egal, wo wir spielen: Schalten Sie zumindest für die letzte Minute unserer Spiele ein – es lohnt sich immer zuzuschauen!“, sagt Schelker.
„Seit Januar führt der Weg nach oben – erst diese tolle WM-Erfahrung, dann sind wir vier Tage später mit einem Unentschieden gegen Andy Schmid und die mächtigen Rhein-Neckar Löwen, dann hatten wir das Gefühl, den ganzen Februar wegen vieler verschobener Spiele durch die Schweiz und Europa zu reisen – aber jetzt können wir Geschichte schreiben.“
Die Auslosung in Montpellier war nicht die einzige Kadetten-Schlagzeile in dieser Woche, als die Schweizer Meister am Donnerstag ihren vielleicht größten Transfer aller Zeiten bekannt gaben: Der spanische Welt- und EHF-Europameister Joan Canellas unterschrieb einen Zweijahresvertrag in Schaffhausen, wo er von Pick Szeged anreisen wird.
Schelker und seine Teamkollegen waren überrascht, als sie den Namen hörten und fragten Manager David Graubner sofort: „Welcher Canellas? Marc, mit dem wir konfrontiert waren, als er bei Kristianstad spielte?“
Diese Nachricht war für Schelker ein weiterer Schub: „Einerseits beweist sie die Ambitionen des Vereins. Auf der anderen Seite beweist es die Stellung der Kadetten auf der europäischen Handballkarte, wenn ein Spieler wie Joan Canellas zu unserem Team stößt.“
Link zum Originalbericht in englisch: https://ehfel.eurohandball.com/men/2020-21/news/en/how-the-boy-from-the-stands-became-the-star/