Zurück aus der Versenkung

kadetten– Schweizer Nationalmannschaft, 1. Mannschaft

Wie es die Schweizer Handball-Nationalmannschaft nach 14-jähriger Absenz wieder einmal an eine EM-Endrunde geschafft hat.

Wenn die Schweizer Handballer am Freitag um 20 Uhr 30 zum Start der EM auf den Co-Gastgeber Schweden treffen, werden 12 000 Zuschauer in die Arena von Göteborg kommen. Damit endet eine Durststrecke – die Schweizer nahmen letztmals vor 14 Jahren an einem grossen Turnier teil.

Das Spiel gegen Schweden ist das wichtigste seit langem für die Schweizer Handballer. Doch im Programm des Schweizer Fernsehens fehlt die Partie, es sendet nur einen kommentierten Live-Stream im Internet. Das SRF hat es verpasst, sich beim Europäischen Handballverband die Fernsehrechte zu sichern. Wer das Spiel im TV sehen will, muss den Privatsender TV 24 einschalten. Das SRF überträgt in der Vorrunde nur die weiteren Spiele am Sonntag gegen Polen und am Dienstag gegen Slowenien.

Das Versäumnis des SRF ist sinnbildlich für die Bedeutung des Handballs in der Schweiz. Nicht nur im nationalen Fernsehen ist die Sportart unbedeutend geworden, sondern auch in den anderen Medien und in der Öffentlichkeit.

Halbprofis und Studenten

Mitte der neunziger Jahre war alles anders, herrschte eine Handballeuphorie im Land. Die Schweizer belegten an der WM 1993 den 4. Rang, sie gewannen an den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta ein Diplom. Damals reichte eine Mannschaft aus Halbprofis und talentierten Studenten, um es an die erweiterte Weltspitze zu schaffen. Die Schweizer trainierten in den NLA-Klubs vier-, fünfmal pro Woche, mehr Aufwand betrieben auch die Handballer in den europäischen Spitzenligen nicht.

Der Erfolg war trotz überschaubarem Aufwand da. Er machte die Schweizer Handballer aber träge. Die Sportart entwickelte sich in Deutschland, in Frankreich, im ehemaligen Ostblock und in Skandinavien. Immer schneller, immer athletischer, immer technischer. Die Schweizer verschliefen die Entwicklung und verloren den Anschluss.

Im Schweizerischen Handball-Verband (SHV) fehlten Visionen und Konzepte, um aus der Abwärtsspirale auszubrechen. Im Schulsport verdrängte Unihockey den Handball, diese Sportart sei den Kindern leichter zu vermitteln, sagen Experten und Lehrpersonen. Das Nationalteam verlor regelmässig die besten Spieler, die nach dem Abschluss des durch den Sport finanzierten Studiums in den Beruf einstiegen und keine Zeit mehr für Spitzenhandball hatten.

Noch an der Heim-EM 2006 setzte die Schweiz vorwiegend auf Halbprofis und Studenten. Der SHV erhoffte sich einen Schub vom Turnier. Doch die Gastgeber belegten den enttäuschenden 14. Rang – Euphorie und Aufschwung blieben aus. Es sollte für 14 Jahre die letzte Endrundenteilnahme bleiben. Die Schweiz versank in der europäischen Drittklassigkeit, enttäuschte oft. Kaum jemand interessierte sich noch für die Handballer.

Als die Schweiz im Januar 2016 in der WM-Qualifikation vom einstigen Handball-Nobody Niederlande 21:34 deklassiert wurde, war ein Tiefpunkt erreicht. Es war ein Schlag ins Gesicht.
Der Schweizer Starspieler Andy Schmid pausierte daraufhin in der Qualifikation für die WM 2019.Warum sollte einer der besten Handballer der Welt die Knochen hinhalten für ein Projekt, das zum Scheitern verurteilt war?

Dem SHV wurde klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Dass es einen radikalen Schnitt brauchte.

Der Verband wechselte im Sommer 2016 den Nationaltrainer aus; auf den glücklosen Deutschen Rolf Brack folgte Michael Suter. Suter hatte mit verschiedenen Schweizer Nachwuchsauswahlen die Qualifikation für zehn WM- und EM-Turniere geschafft. Er erkannte, dass die Nationalmannschaft ziellos umherdümpelte. Er wusste aber, dass im Juniorenbereich viel Qualität vorhanden war. Diese Talente galt es in die A-Nationalmannschaft zu führen. Dann hätte die Schweiz eine Chance.

Giorgio Behrs Talentschmiede

Die Entwicklung im Nachwuchs war durch die private Initiative von Giorgio Behr begünstigt worden. Der Unternehmer und Präsident der Kadetten Schaffhausen eckt in der Szene wegen seiner schillernden Art und seiner pointierten Aussagen zwar öfter an. Behr gründete und finanzierte aber 2011 die «Suisse Handball Academy» in Schaffhausen, das erste Leistungszentrum im Land, und er verpflichtete Suter als dessen Cheftrainer. Diese Position hat der Nationaltrainer heute im Nebenamt inne. Neun heutige Nationalspieler haben die Schaffhauser Talentschmiede durchlaufen.

Beim Jobantritt als Nationaltrainer vollzog Suter einen Umbruch. Spieler, bei denen der Fokus nicht auf dem Handball lag, bekamen kein Aufgebot mehr. Und Suter holte Andy Schmid zurück in die Nationalmannschaft.

Kurzfristig gab es zwar Rückschläge, weil plötzlich unerfahrene Spieler auf höchster Stufe bestehen mussten. Suter ermunterte seine Mannen, ins Ausland zu wechseln, um sich an das internationale Niveau zu gewöhnen und Profi zu werden. Denn die hiesige Liga ist die grösste Baustelle im Schweizer Handball. In der Nationalliga A bieten nur die Kadetten Schaffhausen und Pfadi Winterthur einen nennenswerten Profibetrieb. Es fehlen Spiele auf hohem Niveau, weil die meisten Vereine vorwiegend Amateure und Halbprofis einsetzen. Im internationalen Vergleich ist die Liga längst nicht mehr konkurrenzfähig, auf diese Saison hin hat die Schweiz den fixen Startplatz in der Champions League verloren.

Bei Suters Jobantritt spielten nur zwei Schweizer im Ausland; heute stehen acht Spieler bei Klubs in Deutschland und Frankreich unter Vertrag. Diese Spieler haben Schlüsselrollen eingenommen in der EM-Qualifikation, die der Schweiz souverän gelungen ist.

Die Schweizer sind dank der Nachwuchsarbeit und dem Bekenntnis zum Profitum wieder jemand geworden im internationalen Handball. Das haben jüngst Siege gegen Norwegen, den WM-Zweiten von 2018, oder Deutschland, den Europameister von 2016, gezeigt.

Der SHV erhofft sich von der EM in Schweden den Schub, der vor 14 Jahren ausblieb. Die Zukunft scheint aussichtsreich. Das Schweizer Team ist eines der jüngsten in Europa und hat die Entwicklung noch nicht abgeschlossen. Letzteres gilt auch für den Schweizer Handball generell. Doch auf die Bedeutung des Sportes in der Öffentlichkeit dürfte die EM keine grosse Wirkung haben.

Um das frühere Renommee zu erlangen, braucht es mehr als eine EM und ein erfolgreiches Nationalteam. Die NLA müsste grundlegend reformiert werden. Der Breitensport ist ausbaufähig, so müsste es etwa gelingen, Handball wieder zurück in den Schulsport zu bringen. Und für das Nationalteam ist die regelmässige Teilnahme an Endrunden Pflicht, wenn die Aufmerksamkeit anhalten soll.

Quelle: NZZ, 10.1.2020, CHRISTOF KRAPF, GÖTEBORG

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